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Es ist schon eine sehr verzweifelte und einsame Form des Mutes nötig, um die allgemein anerkannte Weisheit infrage zu stellen, auf der die geistige Ausgeglichenheit beruht.
Kronprinz Raphael Corrino,
Verteidigung der Innovation im Angesicht der Tradition
Die gewaltigen Regierungsgebäude von Corrinth, der Hauptstadt von Kaitain, ragten wie die Phantasie eines Drogensüchtigen rings um Abulurd Harkonnen auf. Selbst in seinen abwegigsten Träumen hatte er sich niemals so viele hohe Gebäude aus kostbarsten Materialien vorstellen können.
Auf Giedi Primus, wo er unter der wachsamen Obhut seines Vaters Dmitri aufgewachsen war, gab es übervölkerte Städte mit unansehnlichen Bauten, die nicht nach ästhetischen, sondern nach funktionellen Aspekten konstruiert waren. Hier jedoch war es völlig anders. Bunte Glockendrachen waren mit Schnüren an den hohen Gebäuden befestigt und bewegten sich am ewig blauen Himmel in der sanften Brise. Prismatische Bänder trieben durch die Luft und warfen Regenbogen auf die steinernen Bodenplatten. Kaitain legte offensichtlich größeren Wert auf die Form als auf den Inhalt.
Bereits nach einer Stunde war Abulurd vom grellen Sonnenschein schwindlig geworden, und er spürte einen drückenden Schmerz im Hinterkopf. Er sehnte sich nach dem bedeckten Himmel von Lankiveil, den feuchten Winden, die einem bis ins Mark drangen, und nach Emmis warmer Umarmung.
Doch Abulurd hatte eine wichtige Aufgabe zu erledigen. Er hatte einen Termin während einer der täglichen Sitzungen des Landsraad-Forums. Es schien sich nur um eine Formalität zu handeln, aber er war fest dazu entschlossen. Er wollte es für seine Familie und seinen jungen Sohn tun, und es würde sein Leben nachhaltig verändern. Abulurd konnte die folgenden Tage kaum erwarten.
Er spazierte die Promenade entlang, unter den Fahnen der Großen und Kleinen Häuser, die wie choreographiert im leichten Wind flatterten. Die imposanten Gebäude wirkten sogar noch massiver und mächtiger als die Klippen, die die Fjorde von Lankiveil säumten.
Er hatte großen Wert darauf gelegt, seinen prächtigsten Walpelzmantel zu tragen, der mit kostbaren Juwelen und handgeschnitzten Muschel-Amuletten verziert war. Abulurd war als rechtmäßiger Vertreter des Hauses Harkonnen nach Corrinth gekommen, um Anspruch auf seinen Titel als planetarischer Gouverneur von Rabban-Lankiveil zu erheben. Er hatte schon immer das Recht gehabt, diese Amtsbezeichnung zu führen, aber bislang war sie für ihn ohne Bedeutung gewesen.
Da er ohne Eskorte oder Speichelleckergarde unterwegs war, hielten die Beamten und Funktionäre Abulurd für keiner größeren Aufmerksamkeit würdig. Sie blickten aus dem Fenster, sonnten sich auf Balkonen oder eilten mit wichtigen Dokumenten auf ridulianischem Kristallpapier hin und her. Für sie war Abulurd einfach unsichtbar.
Als Emmi ihn zum Raumhafen von Lankiveil gebracht hatte, musste er vor ihr noch einmal seinen Auftritt proben. Nach den Vorschriften des Landsraads war Abulurd befugt, eine Anhörung zu verlangen und seine Dokumente vorzulegen. Die anderen Adligen würden seinen Antrag als geringfügig oder gar trivial betrachten. Aber für ihn bedeutete er sehr viel. Er hatte die Sache viel zu lange vor sich her geschoben.
Seit Emmi ein weiteres Kind erwartete, war ihr Glück zurückgekehrt, und sie hatten das Blockhaus wieder geöffnet. Sie hatten versucht, wieder Farbe in ihr Leben zu bringen. Abulurd hatte die Wirtschaft subventioniert und sogar Fische aussetzen lassen, damit die Fischer ihren Lebensunterhalt bestreiten konnten, bis die Bjondax-Wale zurückkamen.
Dann hatte Emmi vor fünf Monaten einen gesunden Jungen auf die Welt gebracht. Sie nannten ihn Feyd-Rautha, teils zu Ehren seines Großvaters Onir Rautha-Rabban, den ermordeten Bürgermeister von Bifrost Eyrie. Abulurd hatte das Baby in den Armen gehalten und die feinen Gesichtszüge mit den wachen, intelligenten Augen bewundert. Das Kind besaß eine unstillbare Neugier und eine kräftige Stimme. In seinem Herzen war es nun sein einziger Sohn.
Gemeinsam mit Emmi hatte er nach der alten buddhislamischen Nonne gesucht, die ihnen für das Zustandekommen der Schwangerschaft mit ihrem Rat geholfen hatte. Sie wollten ihr danken, und sie sollte ihr gesundes Baby segnen, aber von der verhutzelten Frau im himmelblauen, goldbestickten Gewand fand sich keine Spur.
Auf Kaitain wollte Abulurd viel mehr für seinen Sohn tun, als der einfache Segen einer Nonne jemals hätte bewirken können. Wenn alles gut ging, stand dem kleinen Feyd-Rautha eine ganz besondere Zukunft bevor, die nicht von den zahllosen Verbrechen des Hauses Harkonnen befleckt wurde. Er sollte als guter Mensch aufwachsen.
Abulurd richtete sich auf, als er in das Versammlungshaus des Landsraads trat und unter einem Bogen aus gesprenkelten Korallen hindurchschritt, der sich wie eine Brücke über eine Bergschlucht erhob. Nach seiner Ankunft auf der Hauptwelt des Imperiums hatte er bei einem Sekretär vorgesprochen, der seinen Namen auf die Tagesordnung setzen sollte. Als Abulurd sich weigerte, den Beamten zu bestechen, war der Mann einfach nicht in der Lage gewesen, früher als in drei Tagen am Ende einer langen Sitzung einen freien Termin zu finden.
Also hatte Abulurd gewartet. Er verabscheute die bürokratische Korruption und fand sich lieber mit Widrigkeiten ab, als sich den verdorbenen Sitten am Hof Shaddams IV. zu beugen. Er mochte keine langen Reisen und wäre lieber zu Hause geblieben, wo er sich um seine Geschäfte kümmern oder sich die Zeit mit Brettspielen vertreiben konnte, aber die Anforderungen seines adligen Standes zwangen ihn zu vielen Dingen, die ihm unangenehm waren.
Vielleicht konnte er diesmal dafür sorgen, dass sich in dieser Hinsicht einiges besserte.
Im Versammlungshaus tagten Vertreter der Großen und Kleinen Häuser, Direktoren der MAFEA und andere bedeutende Würdenträger, die keinen Adelstitel führten. Die Angelegenheiten des Imperiums durften keinen Tag ruhen.
Abulurd erwartete, dass sein Erscheinen nur wenig Aufmerksamkeit erregte. Er hatte seinen Halbbruder nicht vorgewarnt, und er wusste, dass der Baron keineswegs erfreut reagieren würde, wenn er davon erfuhr. Dennoch schritt Abulurd stolz und zuversichtlich in den großen Saal, obwohl er in Wirklichkeit nie zuvor in seinem Leben so nervös gewesen war. Wladimir würde nichts anderes übrig bleiben, als die Tatsachen zu akzeptieren.
Der Baron hatte ganz andere Probleme und Verpflichtungen. Mit seiner Gesundheit war es in den vergangenen Jahren rapide bergab gegangen, und er hatte so sehr an Gewicht zugenommen, dass er sich nur noch mit Hilfe von Suspensoren bewegen konnte. Abulurd verstand nicht, wie der Baron trotz allem so umtriebig geblieben war. Aber er verstand generell nur sehr wenig von dem, was seinen Halbbruder motivierte.
Abulurd nahm unauffällig in den Rängen Platz und sah sich die Tagesordnung an. Die Debatten hatten sich bereits um eine Stunde nach hinten verschoben – was nichts Ungewöhnliches war, wie er vermutete. Also saß er kerzengerade und geduldig abwartend auf der Bank aus Plastein und verfolgte wirtschaftliche Resolutionen oder winzige Gesetzesänderungen, die ihm völlig gleichgültig waren und von denen er zum Teil überhaupt nichts verstand.
Trotz des Lichts, das durch die Buntglasfenster fiel, und der Heizelemente unter dem kalten Stein hatte der gewaltige Saal etwas Steriles. Abulurd wäre am liebsten wieder heimgekehrt. Als endlich sein Name aufgerufen wurde, riss er sich von diesen Gedanken los und ging nach vorn zum Rednerpult. Seine Knie zitterten, aber er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.
Die Ratsmitglieder saßen in ihren offiziellen grauen Gewändern auf ihren erhöhten Sitzen. Abulurd blickte sich um und sah, dass die Plätze für die Harkonnen-Vertreter unbesetzt waren. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, an dieser unbedeutenden Sitzung teilzunehmen, nicht einmal Kalo Whylls, der langjährige Botschafter von Giedi Primus. Niemand hatte daran gedacht, Whylls zu informieren, dass einer der heutigen Tagesordnungspunkte das Haus Harkonnen betraf.
Ausgezeichnet!
Er wurde unsicher, als er sich an seine letzte geplante Ansprache vor einer größeren Menschengruppe erinnerte – vor den Bürgern von Bifrost Eyrie, die einen unvorstellbaren Schrecken erleben mussten, bevor er seine Rede halten konnte. Abulurd holte tief Luft und machte sich bereit, den Vorsitzenden anzusprechen, einen dürren Mann mit langem geflochtenem Haar und Schlafzimmerblick. Er konnte sich nicht erinnern, welchem Haus der Vorsitzende angehörte.
Doch bevor Abulurd etwas sagen konnte, führte der Protokolldiener in einer langen Sequenz seine Namen und Titel auf. Abulurd hatte gar nicht gewusst, dass man so viele Worte um seine Identität machen konnte, da er eine verhältnismäßig unwichtige Person im System der Faufreluches war. Aber es klang in der Tat beeindruckend.
Allerdings schien sich keiner der gelangweilten Sitzungsteilnehmer davon beeindrucken zu lassen. Die meisten beschäftigten sich weiter mit irgendwelchen Dokumenten.
»Euer Ehren«, begann er, »meine Herren, ich bin gekommen, um einen offiziellen Antrag zu stellen. Ich habe die erforderlichen Unterlagen eingereicht, um Anspruch auf meinen Titel als planetarischer Gouverneur von Rabban-Lankiveil zu erheben. Ich habe diese Funktion seit Jahren ausgeübt, obwohl ich nie dazu gekommen bin ... mir das Amt offiziell bestätigen zu lassen.«
Als er seine Argumente mit zunehmend leidenschaftlicher Stimme vortragen wollte, hob der Vorsitzende die Hand. »Sie haben das erforderliche Prozedere für eine Anhörung befolgt und alle nötigen Dokumente eingereicht.« Er blätterte die Dokumente durch, die ihm vorlagen. »Wie ich sehe, ist der Imperator ebenfalls in Kenntnis gesetzt worden.«
»Das ist richtig«, sagte Abulurd, der wusste, dass die Nachricht an seinen Halbbruder über eine langsame Heighliner-Route abgeschickt worden war – eine bewusst herbeigeführte Verzögerung.
Der Vorsitzende hielt ein Blatt hoch. »Nach diesem Schreiben wurden Sie von Baron Harkonnen Ihres Postens auf Arrakis enthoben.«
»Ohne Einwände meinerseits, Eurer Ehren. Und mein Halbbruder hat keinen Widerspruch gegen meinen heutigen Antrag eingereicht.« Das entsprach den Tatsachen. Denn die Nachricht an ihn war immer noch unterwegs.
»Völlig richtig, Abulurd Harkonnen«, sagte der Vorsitzende und studierte wieder die Unterlagen. »Und wie ich sehe, hat auch der Imperator keine Einwände erhoben.«
Abulurds Puls ging schneller, als er beobachtete, wie der Vorsitzende die Akten wälzte. Habe ich irgendetwas vergessen?
Schließlich blickte der Vorsitzende wieder auf. »Alle Voraussetzungen sind erfüllt. Der Antrag ist genehmigt.«
»Ich ... ich habe noch einen zweiten Antrag«, gab Abulurd bekannt, der leicht irritiert war, dass alles so reibungslos verlaufen war. »Ich möchte offiziell meinen Harkonnen-Namen ablegen.«
Jetzt ging ein leises Raunen durch die Versammelten.
Er rief sich die Worte ins Gedächtnis, die er so viele Male mit Emmi eingeübt hatte, und stellte sich vor, sie wäre an seiner Seite. »Ich kann die Aktionen der Mitglieder meiner Familie nicht länger gutheißen«, sagte er, ohne sie namentlich zu erwähnen. »Ich habe einen Sohn, Feyd-Rautha, und ich möchte, dass er ohne den Makel eines Harkonnen-Namens aufwächst.«
Der Vorsitzende des Landsraad-Forums beugte sich vor, als würde er Abulurd nun zum ersten Mal bewusst wahrnehmen. »Ist Ihnen in allen Konsequenzen bekannt, was Sie da beantragen?«
»Voll und ganz«, sagte er und war selbst überrascht, wie kraftvoll seine Stimme klang. Er war stolz auf das, was er soeben gesagt hatte. »Ich bin auf Giedi Primus aufgewachsen. Ich bin der zweite überlebende Sohn von Dmitri Harkonnen. Mein Halbbruder, der Baron, herrscht über alle Besitztümer der Harkonnens und tut, was ihm beliebt. Ich will nur Lankiveil behalten, den Planeten, der zu meiner Heimat geworden ist.«
Seine Stimme wurde sanfter, als könnte er die gelangweilten Sitzungsteilnehmer auf diese Weise zu Mitgefühl bewegen. »Ich will gar nichts mit der galaktischen Politik oder der Herrschaft über Welten zu tun haben. Ich habe meinen Dienst auf Arrakis geleistet und festgestellt, dass mir nichts daran liegt. Ich brauche keine Reichtümer. Macht und Ruhm bedeuten mir nichts. Diese Dinge überlasse ich gerne jenen, die freiwillig danach streben.« Seine Stimme stockte für einen Moment. »Ich will kein Blut mehr an den Händen haben. Dasselbe wünsche ich mir auch für meinen kleinen Sohn.«
Der Vorsitzende erhob sich würdevoll in seinem grauen Gewand. »Sie geben auf immer jede Verbindung zum Haus Harkonnen auf, einschließlich der dazugehörigen Rechte und Privilegien?«
Abulurd nickte mit Entschiedenheit und ignorierte das Gemurmel, das sich im Saal ausbreitete. »Vollständig und ohne Ausnahme.« Diese Leute würden in den nächsten Tagen viel miteinander zu bereden haben. Doch das kümmerte ihn nicht, da er sich längst auf dem Rückweg zu Emmi und ihrem Baby befinden würde. Er hatte keinen Ehrgeiz, er wollte nur ein ruhiges, normales Leben führen und glücklich sein. Der übrige Landsraad konnte ohne ihn weitermachen. »Fortan werde ich den ehrwürdigen Namen meiner Frau tragen – Rabban.«
Der Vorsitzende des Landsraad-Forums bekräftigte die Entscheidung mit einem Hammerschlag, der schicksalhaft durch den Saal hallte. »Hiermit ist Ihr Antrag durch den Rat genehmigt. Giedi Primus und der Imperator werden unverzüglich benachrichtigt.«
Abulurd konnte sein Glück immer noch nicht fassen, als der Protokolldiener den nächsten Redner ankündigte und man ihn höflich, aber mit Nachdruck aufforderte, den Platz zu räumen. Schnell verließ er das Versammlungshaus des Landsraads. Draußen strahlte ihm wieder die Sonne ins Gesicht, und er hörte das musikalische Klingeln der Glockendrachen. Seine Schritte waren plötzlich beschwingt, und er lächelte übers ganze Gesicht.
Andere wären vielleicht angesichts der Tragweite der Veränderung erzittert, die er soeben eingeleitet hatte, aber Abulurd Rabban hatte keine Angst. Er hatte alles erreicht, was er zu erreichen gehofft hatte, und Emmi würde sehr zufrieden sein.
Er eilte in seine Unterkunft, um die wenigen Sachen zusammenzupacken, die er mitgenommen hatte, dann machte er sich unverzüglich auf den Weg zum Raumhafen. Er konnte es kaum abwarten, zum stillen, abgeschiedenen Lankiveil zurückzukehren, wo er ein neues und besseres Leben beginnen wollte.